16.10.2006 Anlieger kurzer Stichstraßen zahlen nicht für den Um- und Ausbau der Hauptstraße, wenn diese eine andere Verkehrsbedeutung hat als die Stichstraße

Im Regelfall ist der Anlagenbegriff des Hessischen Kommunalabgabengesetzes im Bezug auf Straßen identisch mit dem des Erschließungsbeitragsrechts. Daraus folgt, dass Stichstraßen über 100 m Länge oder kürzere Stichstraßen, die sich nochmals verzweigen oder in ihrem kurzen Verlauf stark abknicken oder die gegenüber der Hauptstraße eine deutlich unterschiedene Bebauungsstruktur aufweisen, selbständige Anlagen sind. Die von diesen selbständigen Stichstraßen erschlossenen Grundstücke werden beim Um- und Ausbau der Hauptstraße - ohne dass gleichzeitig auch die Stichstraße um- und ausgebaut wird - nicht beitragspflichtig. Anders die Grundstücke an unselbständigen Stichstraßen. Für solche Grundstücke entsteht die Beitragspflicht für die Hauptstraße und zwar sogar dann, wenn an der Stichstraße selbst keine Baumaßnahmen stattfinden.

Von diesem für das Erschließungsbeitragsrecht und das Straßenbeitragsrecht identischen Grundschema meint das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in der Entscheidung 9 M 2815/96 vom 30.01.1998 eine Ausnahme machen zu müssen für den Fall, dass die Hauptstraße eine überwiegend dem innerörtlichen oder gar überörtlichen Durchgangsverkehr dienende Straße ist und somit eine andere Verkehrsbedeutung hat als die stets überwiegend dem Anliegerverkehr dienende unselbständige Stichstraße. Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat sich mit dieser Rechtsprechung auseinander gesetzt und ist in der Entscheidung 4 G 303/06 vom 29.5.2006 zur gegenteiligen Auffassung gekommen. Dies meint nun wieder der Hessische Verwaltungsgerichtshof in einem Beschluss 5 TG 1481/06 vom 22.8.2006 anders und zwar mit dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht entscheiden zu müssen. Allerdings nimmt er aus der Gruppe der wegen der unterschiedlichen Verkehrsfunktion nicht für die Hauptstraße beitragspflichtigen Grundstücke wieder diejenigen aus, die lediglich an einem "Annex" zur Hauptstraße liegen. Es soll nach Vorstellung des Verwaltungsgerichtshofs auf den Einzelfall ankommen, ob es sich bei der jeweiligen unselbständigen Stichstraße um einen solchen "Annex" handelt oder nicht.

An der für das Hessische Straßenbeitragsrecht letztinstanzlichen Entscheidung des Hessischen VGH ist zum einen zu kritisieren, dass die relative Sicherheit bei der Anlagenabgrenzung, die von der erschließungsbeitragsrechtlichen Rechtsprechung zur Selbständigkeit von Stichstraßen sowohl für die beitragserhebenden Städte und Gemeinden als auch für die Beitragspflichtigen ausging, nun - wie in Niedersachsen auch - durch die notwendige Beurteilung der in vielen Fällen kontrovers gesehenen Verkehrsbedeutung der Hauptstraße aufgegeben wird. Zum anderen dürfte die Frage, ob eine unselbständige Stichstraße als ein solcher "Annex" anzusehen ist, einer verlässlichen Anwendung des Straßenbeitragsrecht zusätzlich abträglich sein. Nach dem obiter dictum des Beschlusses kann ein "Annex" nämlich eines oder auch mehrere Grundstücke erschließen.


Nur wenige Tage nach Bekanntwerden der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs ist die Entscheidung 6 A 10418/06.OVG des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 27.9.2006 bekannt geworden, in der das OVG für das Rheinland-Pfälzische Ausbaubeitragsrecht die entgegengesetzte Auffassung vertritt.
Der Hessische VGH hat sich inzwischen von der strikten Anwendung der oben aufgestellten Regel verabschiedet. In der Entscheidung 5 A 579/13.Z wird ausgeführt: "Die unterschiedliche Verkehrsbedeutung von Stichstraße - zwangsläufig dem Anliegervekehr dienend - und Hauptstraßenzug - möglicherweise überwiegend dem inner- oder überörtlichen Durchgangsverkehr dienend - ist eines unter mehreren Kriterien zur Beantwortung der Frage nach der Selbständigkeit der Stichstraße."

Manuskript Stand 01.08.2014

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